Dies ist die Geschichte eines Katers, den es an Arroganz und Respektlosigkeit kaum zu übertreffen gilt. Nur wenige Mitglieder des Clans können dem Protagonisten unserer Geschichte das Wasser reichen. Eine Tatsache, der er sich natürlich nur zu gut bewusst ist.
Vor etlichen Jahren gab es unter den Zweibeinern einen Mann, der diese Geschichte gelesen und für sich verwendet hat. Allerhand, sage ich euch! Lasst mich euch die Wahrheit erzählen, über Claw, den Kater mit dem kalten Herzen und die Geister, die er rief.
Jene Zeit im Jahr in der die Zweibeiner zusammenkommen, und von nah und fern zu ihren Familien strömen um sich mit gut duftendem Essen vollzustopfen, bis sie bestenfalls noch durch die Gegend rollen können, in der sie zuhauf in die Wälder strömen um junge Tannen zu schlagen und in ihre Nester schleppen um sie mit bunten Lichtern, Glitzer und jede Menge bunter Kugeln zu schmücken, in der schief gesungene Lieder die Luft durchschneiden und in der die Zweibeiner Großherzigkeit und Güte heucheln, diese Zeit nennt man Weihnachten.
Die Zweibeiner feiern die Geburt eines Kindes, das schon seit abertausenden Jahren nicht mehr unter den Lebenden weilt und erzählen sich die Geschichte immer und immer wieder.
Weihnachten. Jene Zeit im Jahr, wenn sich das Jahr dem Ende zuneigt und kurz davor steht in eine neue Blattfrische überzugehen. Weihnachten. Ein Begriff mit dem keine Waldkatze, weder Streuner, noch BlutClan-, noch Clankatze, etwas anfangen kann. Und doch kehrt auch bei den Katzen des Waldes gegen Ende des Jahres eine eher ruhige und besinnliche Zeit ein.
Wenn der Schnee Meterhoch liegt und sich kaum noch eine Katze freiwillig aus dem Nest wagt und Familien in ihren Bauten enger zusammenrücken um gemeinsam ihre Wärme zu teilen und Geschichten erzählt werden.
Eine Zeit, in der besonders der Ahnen gedacht wird und dem nahenden Tod, der jeden Tag in der Blattleere hinter jeder Ecke lauern kann.
So zumindest bei den Clans und den Streunern! Für Claw war das alles nur Humbug! Wer brauchte schon Güte und Mitgefühl? Nur weil die Blattleere hart und kalt war, hieß das noch lange nicht, dass deswegen irgendwer verschont werden würde.
Hier im BlutClan hieß es für seinen Lebensunterhalt zu kämpfen. Und wer nicht kämpfen konnte war zu schwach um die Ehre sich BlutClan-Katze nennen zu dürfen, zu tragen.
Der schwarze Kater verachtete solch widerliches Gesindel, das sich wimmernd und bibbernd unter den Möbeln und anderen Unterständen zusammendrängte und zu träge war, um Beute heranzuschaffen.
Nur zu gern würde er Djinn vorschlagen, doch diese jämmerlichen Weinerlinge zu verspeisen, wenn sie sich schon zu fein dafür waren für den Lebensunterhalt des Clans etwas zu tun! Aber der Anführer wollte davon nichts hören. Aber das hielt Claw natürlich nicht davon ab dem ein oder anderen unwichtigen Schwächling damit zu drohen und seine mächtigen Klauen, denen er unter anderem seinen Namen zu verdanken hatte, ins Spiel zu bringen.
Für ihn war das Leben im BlutClan alles! Die Gesetze des Stärkeren sicherten sein Überleben und auch die Tatsache, dass man Gefangene nahm mit denen er Tag und Nacht „spielen“ konnte, befriedigte die Tiefen seines verdorbenen Seins. Und jeder, der nicht mit Djinns Prinzipien klarkam, der hatte entweder zu gehen oder „spurlos von der Oberfläche zu verschwinden“. Dass Claw ein Verfechter der zweiten Variante ist, muss an dieser Stelle nicht zusätzlich erwähnt werden.
Mitgefühl, Güte, Großzügigkeit, das waren Fremdworte für den pechschwarzen Kater. Unnötiger Fantastereien hinter denen die Schwachen sich versteckten. Und da machte auch die Härte der Blattleere keinen Unterschied.
Unter den Gefangenen und Normalen war er als grausamer Kater bekannt, dessen nähere „Bekanntschaft“ keiner wirklich erstrebte.
Doch es sollte sich zutragen, dass sich das Verhalten Claws nahezu rapide ändern sollte und Dinge geschahen, die sein Denken und seine Ansicht auf das Leben drastisch verändern sollten.
Es war die kälteste Nacht des Jahres. Im Morgengrauen würden die Zweibeiner den 24. Dezember feiern und die Katzen des Waldes sich zusammenrotten um ihre eigenen kleinen Rituale zu feiern.
Claw lag in seinem improvisierten Nest und schlief friedlich vor sich hin, als seine Träume unterbrochen wurden von einer wispernden Stimme, die mit krächzender Stimme seinen Namen rief.
Es brauchte einige Herzschläge lang, ehe die Stimme bis tief in das Bewusstsein des Katers vorgedrungen und ihn aus dem Schlaf gerissen hatte.
Als er die Augen öffnete, erkannte er eine geisterhaft schimmernde Gestalt. Es brauchte einige Momente der Erinnerung an längst vergangene Zeiten um in der durchscheinenden Gestalt seinen Vater zu erkennen.
Der Tod seines Erzeugers lag nun schon so lange Zeit zurück, dass sich Claw kaum noch an die Einzelheiten erinnern konnte, die seinen Vater ausgemacht hatten. Er gehörte zu jenen Katzen die „von der Erdoberfläche verschwunden“ waren. Claw wusste natürlich um die Hintergründe und den Mord seines Bruders an ihrem gemeinsamen Erzeuger und dennoch bewunderte er Diablo noch immer dafür.
Claw richtete sich auf und fauchte die Gestalt an. Er solle verschwinden und ihn nicht seines kostbaren Schlafes berauben, solle in das dreckige Loch zurückkehren aus dem er gekrochen kam und noch andere Gemeinheiten.
Doch egal, was Claw dem Geist auch zufauchte, nichts schien ihn zu berühren.
Er saß einfach da, den Schweif über die Pfoten geringelt, die blicklosen Augen starr auf ihn gerichtet, sodass sich der schwarze Kater einer Gänsehaut nicht erwehren konnte.
“Was ist nur aus dir geworden, Claw.“Verständnislos blickte der Schwarze seinen Vater an und setzte zu einer erneuten Schimpftirade an, als die geisterhafte Gestalt sich erhob und auf ihn zutrat. Er legte die durchscheinende Pfote auf die Stelle, an der Claws Herz heftig unter der Haut schlug. Und eigentlich dürfte er das was er spürte gar nicht spüren! Immerhin war das hier nur ein Geist, ein Traum, denn Geister gab es doch gar nicht! So ein Humbug.
Aber warum fühlte sich sein Herz dann urplötzlich so schwer an? Warum schmerzte ihn jeder Schlag des lebensspendenden Organs so sehr?
“Du solltest dich schämen. Kümmert es dich denn gar nicht was die Anderen von dir denken? Du bist grausam und sadistisch, kennst weder Gnade noch Mitgefühl. Hast du dich je gefragt, was passiert, wenn sich das Schicksal wendet und du derjenige bist der um Gnade winselt? Ich rate dir dringend dein Verhalten zu überdenken und dich zu bessern, Sohn, denn sonst wird das Leben nach dem Tod die Hölle für dich werden. Ich habe Furchtbares getan und verbringe meine Existenz mit Reue und Buße. Aber dir muss es nicht so ergehen! Höre meine Worte und schreib sie gefälligst hinter deine Ohren!“Und mit diesen Worten löste sich die geisterhafte Gestalt in Nebelschwaden auf. Das beklemmende Gefühl in seiner Brust verschwand und er war wieder allein in dieser stillen und kalten Nacht.
Claw schüttelte zischend den Kopf und legte sich zurück in sein Nest. Verhalten überdenken. Sich bessern. Leben nach dem Tod. Pah! Als ob es Geister gab die ihm vorschreiben konnten was er zu tun und zu lassen hatte.
Das war ja zum Totlachen! Mit den Augen rollend fiel Claw in seinen wohlverdienten Schlaf zurück und verschwendete nicht einen einzigen Gedanken mehr an die Worte seines verachtungswürdigen Vaters und diesen lächerlichen Traum.
Doch kaum einige Stunden später, Claw konnte nicht sagen wie lange er dieses Mal geschlafen hatte, wurde er erneut vom Wispern einer Stimme geweckt.
Deutlich schneller dieses Mal erwachte der schwarze Kater aus seinem Schlaf und blinzelte die geisterhafte Gestalt verwirrt an.
Zuerst hatte er erneut schimpfen und fauchen wollen, in der Annahme, sein Vater habe sich erneut in seine Träume geschlichen, doch das Fauchen blieb ihm regelrecht im Halse stecken.
“Wer bist du? Und was machst du hier?“Vor ihm stand die schimmernde, in Sternenlicht gehüllt Gestalt einer jungen Kätzin. Man konnte erahnen, dass sie Zeit ihres Lebens sicher einmal sehr schön gewesen sein musste. Ihre Blicklosen Augen funkelten ihn an, und auch wenn in den sternenverhangenen Seelenspiegeln keinerlei Ausdruck auszumachen war, umgab ihn das Gefühl von Wärme und Vertrautheit.
Die Kätzin ringelte ihren Schweif über ihre Pfoten und legte dann den Kopf schief, ehe eine sanfte Stimme Claws Kopf erfüllte:
“Ich bin der Geist der vergangenen Blattleere.“Dieser Satz schien eine Erklärung zu sein und doch verstand Claw kein Wort dessen, was der hübsche Geist ihm zu sagen versuchte. Die Geisterkätzin streckte ihre Pfote aus und berührte die Stirn des schwarzen Katers.
Der schloss daraufhin die Augen und fühlte sich in eine Traumwelt versetzt. Doch, dass dies kein Traum war, sollte er schon bald feststellen.
Sie befanden sich im Lager des BlutClans. Alles war beim Alten, genauso wie er es kannte und doch gleichzeitig so fremd. Er erkannte einige der Wächter und Töter wieder, die durchs Lager streiften. Er schritt zwischen den Katzen umher, doch keiner schien ihn und seine Anwesenheit zu bemerken. Neben ihm lief schweigend die sternenschimmernde Kätzin und führte ihn sanft zu einem kleinen Unterstand aus einem alten, löchrigen Wellblech, das man eilig über zwei nebeneinanderliegende Felsen gezogen hatte, um so wenigstens einen geringen Schutz vor Wind und Wetter zu bieten.
Vor sich sah er eine Kätzin in einem improvisierten Nest liegen aus Moos, Federn und herausgerissenen Stücken aus einer Stoffdecke. Die Kätzin selbst wirkte erschöpft und dennoch glücklich, als sie auf die kleinen Fellbälle an ihrem Bauch blickte. Es dauerte einen Moment lang, ehe Claw erkannte, dass dies Gloria war. Seine Mutter. Und das schwarze kleine Wesen dort am Bauch seiner Mutter, das war er, der sich mit Diablo, Glaziola und Belial um die Milch seiner Mutter stritt.
Angewiedert blickte der Schwarze sich um und sah dann wütend den Geist an.
“Das hier ist ein Trick, nicht wahr? Meine Geschwister und ich, wir sind nicht unter so jämmerlichen Umständen geboren worden. Gloria war eine stolze BlutClan-Kätzin!“Der Geist blickte schweigend auf die Szene vor sich und begann dann erneut zu sprechen:
“Gloria war eine stolze BlutClan-Kätzin, das mag sein. Aber sie besaß weder einen nennenswerten Rang noch ein besonderes Ansehen. Nicht einmal euer Vater hatte noch großes Interesse an ihr oder euch. Seit ihr in ihrem Bauch herangewachsen seid, war sie auf sich allein gestellt, denn sie war schwach. So schwach, dass schon eure Geburt sie sehr viel Kraft gekostet hat. Sie hatte nicht genug Milch um euch alle zu versorgen und so war es nicht verwunderlich, dass erst eure Schwester, Glaziola starb und wenig später auch euer kleiner Bruder Belial.
Die Blattleere in der ihr geboren wurdet war sehr hart, härter als andere und nur durch besondere Katze war es möglich, dass du und dein Bruder überleben konntet. Sieh nur.“Und mit diesen Worten nickte sie in Richtung zweier Katzen, die auf die Mutter zugetrottet kamen.
Eine dieser Katzen war übersät mit blutenden Kratzern und vernarbten, teilweise entzündeten Wunden. Es musste sich zweifelsohne um einen gepeinigten Gefangenen halten, oder in diesem Fall, eine Gefangene.
Sie schnurrte sanft und schob Gloria eine verhältnismäßig fette Wühlmaus zu. Wo sie die gefunden haben mochte, das wussten wohl nur die Sterne allein.
Es brauchte viel gutem Zureden und Ermunterung ehe Gloria die Maus annahm und hungrig verspeiste.
Die Gefangene blickte herab und sah der Königin dabei zu. Sie selbst war abgemagert und hatte vermutlich schon lange nichts mehr gegessen. Doch das schien sie nur wenig zu kümmern.
Claw sah zu dem Geist und fragte sie:
“Wer ist das?“Doch die schimmernde Gestalt beschied ihm mit gestrecktem Kinn weiter zuzusehen.
Der Kater, der die Gefangene begleitet hatte sah in die Richtung in der Claw und der Geist der vergangenen Blattleere saßen und die Szenerie beobachteten. Erst dachte Claw, er würde sie sehen können, doch ihm wurde klar, dass der Kater nur in ihre Richtung schaute um Gloria nicht ansehen zu müssen. Offensichtlich war er angewiedert von der Kätzin und ihren Jungen.
“Danae war auf der Jagd. Sie kennt das Gesetz nach dem erst die Ranghöheren versorgt werden müssen. Aber sie bestand darauf, dass diese Maus für dich reserviert ist. Sie hat sogar die Strafe schweigend hingenommen. Es gefällt mir nicht, aber dafür verdient sie meinen Respekt. Ich will dir geraten haben hierüber zu schweigen, Gloria. Wenn Djinn erfährt, dass ich das hier zugelassen habe, dann…nun. Dann wird es mir schlecht ergehen. Und nun komm, Danae.“Die Gefangene lächelte Gloria ein letztes Mal zu und humpelte dann an der Seite des Wächters zurück zu dem Platz an dem die Gefangenen zusammengepfercht wie Schlachtvieh schliefen. Er schubste sie zu den anderen wie das wertlose Gesindel, das sie nun einmal war und Claw beobachtete die Szene mit einem seltsamen Gefühl in der Brust, das er weder zuordnen noch benennen konnte.
Der Geist setzte sich ihm gegenüber und blickte ihn an.
“Danae ist am nächsten Morgen nicht mehr aufgewacht. Sie erlag den Qualen denen sie sich selbst ausgesetzt hatte. Aber mit der Beute, die sie deiner Mutter entgegen des Gesetzes des Herrschers gebracht hatte, hat sie euer Leben gerettet. Die Ahnen wissen, dass Gloria nicht genug Milch für euch hatte, da sie selbst unter einer Mangelernährung litt.“Sie berührte seine Stirn ohne auf eine Erwiderung zu warten und als Claw die Augen öffnete, befand er sich wieder in seinem Nest in vertrauter Umgebung.
Schamgefühl machte sich in ihm breit, als er erkannte, dass Danae eine jener Kreaturen gewesen war, die er so verachtete und mit Vorliebe quälte und peinigte.
Kreaturen, die er, wenn es nach ihm ging, nicht einmal eines zweiten Blickes würdigte.
Eine solche Kreatur hatte dafür gesorgt, dass Diablo und er überlebt hatten, auch wenn es sie das eigene Leben gekostet hatte.
Sein Herz schlug schwer in seiner Brust und dieses Mal fiel es ihm deutlich schwerer in die Ruhe des Schlafes zu finden.
Gefühlt hatte Claw ein paar Minuten geschlafen, als das mittlerweile vertraute Wispern ihn aus dem Schlaf riss und er sich einer weiteren Geistergestalt gegenüber sah.
Dieses Mal hatte der Geist die Gestalt eines massigen, narbenübersäten Katers, dessen rechtes Ohr bestenfalls noch ein Stummel zu nennen war.
Sein buschiger Schweig stob hin und her, als er mit einer Reibeisen-Stimme in Claws Kopf sprach:
“Wach auf, Knabe. Ich bin der Geist der gegenwärtigen Blattleere.“Claw schüttelte resigniert den Kopf und blickte den Neuankömmling feindselig an.
“Ich brauche nun wirklich keine Belehrung über die Gegenwart. Ich bin ganz zufrieden so wie mein Leben gerade läuft, also verschwinde!“Doch der Kater fuhr ihm unberührt mit dem Schweif über die Stirn und versetzte ihn zurück in diese seltsame Traumwelt, die er schon mit dem vorigen Geist betreten hatte. Doch dieses Mal erkannte er die vertrauten Umrisse des Lagers und auch einige der Gesichter um ihn herum.
Claw folgte dem Geist, auch als ein gewisser Widerwillen in ihm aufstieg, als er erkannte, wohin der Geist ihn führte.
An der Haltungsweise der Gefangenen hatte sich in den vergangenen Monden nicht allzu viel geändert.
Ein wenig abseits setzte sich der Geist nieder und beschied Claw hinzusehen.
Zähneknirschend erwartete er beinahe, sich selbst bei einem seiner grausamen Spiele zu sehen.
“Ist ja gut, ist ja gut!“, versuchte Claw den Geist zu besänftigen,
“Ich weiß ich bin ein grausamer und furchtbarer Kater gewesen. Ich gelobe Besserung! Keine Folterspielchen mehr mit den „Unschuldigen“, ich versprechs!“Dass er das nicht wirklich ernst meinte, musste der Geist ja nicht wissen. In diesem Moment würde der Schwarze wirklich alles tun, um aus dieser furchtbaren Situation entkommen zu können.
Es war eine Sache mit perfider Faszination selbst diese Spielereien durchzuführen, aber eine andere, einem anderen Wächter oder gar Töter dabei zuzusehen.
Zumal er das Objekt der Begierde erkannte, welches der Töter vor ihm sich ausgewählt hatte.
Es handelte sich um Paige, eine junge und ziemlich depressive Gefangene, die seit einigen Tagen bei ihnen im Lager weilte.
Sie war eine Streunerin, die man auf ihrem Gebiet gesichtet hatte. Anfangs hatte sie versucht sich zu wehren, doch nicht nur Claw selbst hatte sich ihren Spaß mit ihrer Qual getrieben.
Sie war nur Abschaum. Wo also war das Problem?
Der Geist neben ihm räusperte sich und sprach zu ihm:
Dies hier ist Paige. Eine junge und geplagte Seele. Vom eigenen Vater mehrfach gegen ihren Willen zur Befriedigung der eigenen Triebe missbraucht glaubte sie in einem der BlutClan-Kater die einzig wahre Liebe gefunden zu haben.
Wer es ist tut nichts zur Sache und ist ein Geheimnis, das ganz allein ihr gehört. Erinnerst du dich daran, dass sie immer wieder versuchte euch etwas zu sagen? Dir etwas zu sagen?
Sie hatte so große Hoffnungen in dich, hoffte, du seist anders als die Anderen. Sie vertraute deinem falschen Lächeln und flehte dich an sie zu finden.
Du hast sie ausgelacht und dafür gesorgt, dass ihre Seele bricht.
Sie ist Mutter, wusstest du das? Ihre Jungen sind kaum älter als die Tage die sie hier ist.
Wie du dir vielleicht denken kannst, sind Jungen auf die Wärme und die Milch ihrer Mutter angewiesen. Vor allem in so jungen Jahren. Und wie du dir sicher auch denken kannst, sind sie in ihrem kleinen Versteck jenseits des Lagers jämmerlich verhungert und erfroren.
Diese Jungen hatten Namen, weißt du? Sie hießen Leia, Fionn und Miro. Paige liebte sie über alles. Das Herz einer Mutter weiß genau, wenn ihre geliebten Jungen dieses Leben verlassen.“Claw atmete tief ein und erinnerte sich an die scharfen Worte mit denen er selbst die junge Kätzin verhöhnt hatte. Wie er ihr haarklein erklärt hatte, was er mit ihr zu tun gedachte. Er hatte sie verspottet und gepeinigt, ihr vorgehalten, dass keiner sie je wollen würde. Dass allein der Umgang mit ihr einen ehrbaren Kater schmutzig machte. Und er hatte den Schmerz in ihren Augen gesehen. Hatte die Trauer erkannt, als er niemals möglichen Nachwuchs erwähnte. Er hatte es erkannt und sie dafür ausgelacht. Hatte ihren Schmerz zur Waffe gegen ihre Seele gerichtet. Und er hatte Erfolg gehabt.
Erneut erfasste ihn ein seltsames Gefühl, doch dieses Mal konnte er sehr wohl benennen um was es sich handelte. Scham.
Ein Wesen wie Paige hatte ihm einst sein verkommenes Leben gerettet während er in gewisser Weise nicht nur ihren Verstand auf dem Gewissen hatte, sondern auch das Leben der kleinen Jungen.
Es bedurfte keiner Worte, als Claw sich umwandte und die Szenerie verließ.
Die Gefühle in seinem Inneren drohten ihn zu überfordern. Es fühlte sich an als würde all seine bisherigen Taten in Frage stellen und geriet in einen verzweifelten Konflikt.
Einerseits umgaben ihn Schamgefühl und Beschämtheit, Gram und Mitgefühl und auf der anderen Seite verachtete er sich selbst für derartig unnütze Gefühlsregungen. Er musste das Gefühl aufsteigender Übelkeit unterdrücken und war dankbar, als der Geist neben ihm auftauchte und mit der Pfote seine Stirn berührte und ihn zurück in die Gegenwart beförderte.
Geradezu zerschlagen lag Claw in seinem Nest und blickte schlaflos hinauf zum Silbervlies.
Er war nicht gerade auf den Kopf gefallen. Nachdem ihn nun schon der Geist der vergangenen und auch der gegenwärtigen Blattleere besucht hatten, war es nicht schwer zu erraten, was ihn alsbald erwarten würde.
Angst umgab ihn und die Furcht ob der Fürchterlichkeiten, die seine Zukunft für ihn bereithalten würde.
Die Gefühle in seinem Inneren befanden sich im Widerstreit und ein Teil von Claw wünschte sich, der Geist möge nun endlich auftauchen und er konnte es hinter sich bringen, der andere Teil seiner Selbst hatte Angst um die Botschaft, die er zu erwarten hatte und wünschte sich, einfach in seinem Nest bleiben und den Morgen abwarten zu können.
Doch natürlich hielt das Schicksal eine letzte Lektion für ihn bereit und so erwartete Claw den Geist schweigend, der sich nach einer Weile vor ihm aus einem sprühfeinen Sternennebel manifestierte.
Hoffnung stieg in ihm auf, als er in das lächelnde Gesicht eines unschuldigen kleinen Jungen sah. Vielleicht hielt die Zukunft ja doch gar nicht so etwas Fürchterliches für ihn bereit.
Die vielen Narben auf dem sternenübersäten Körper hätten ihn Besseres lehren müssen, doch Claw war geblendet von der stummen Hoffnung und der Furcht vor dem was er alsbald zu sehen bekommen würde.
“Ich bin der Geist der zukünftigen Blattleere!“, fiepste das kleine Geisterwesen und hopste fröhlich auf ihn zu.
Auch seine Augen waren blicklos und doch strahlte das körperlose Wesen einen Frohmut aus, die Claw anzustecken wagten.
“Nun gut, Geist, dann zeige mir meine Zukunft.“, rief der Schwarze dem Geist resigniert zu.
Der Geist stellte sich auf die kleinen Hinterpfoten und berührte seine Stirn mit seiner kleinen Stupsnase.
Das Lager, das der kleine Geist und Claw nun betraten war ihm fremd. Alles war hochbedeckt mit Schnee und der Ort, an dem sie ihre Frischbeute lagerten war leer.
Djinn, oder zumindest glaubte Claw in dem Kater in der Mitte des Lagers Djinn zu erkennen, war umtrieben und rastlos. Seine Krallen fuhren ständig aus der Haut und wieder zurück. Der Anführer des BlutClans zu sein musste ihm selten schwerer gefallen sein als in dieser Blattleere, die in ihrer Schwere die jetzige um Welten übertraf.
Was der Geist ihm wohl zeigen wollte?
Claw blickte zu dem kleinen Sternenwesen neben sich und hob fragend eine Braue.
Das Junge aus Sternenlicht hörte auf seinen eigenen Schweif zu jagen und blickte zu ihm auf:
“Djinn musste viele Katzen verjagen. Die Gefangenen wurden größtenteils getötet und die Normalen ziemlich dezimiert. Wer nicht in Djinns Ungnade fiel den hat die Gnade des Hungertods ereilt. Es sind schwere Zeiten.“Damit begann der junge Geist erneut seinen Schwanz zu jagen und Claw war gezwungen sich die Frage, was genau hier vor sich ging, zu verkneifen.
Doch ihm wurde bald klar, dass er nicht lange warten musste.
Zwei Wächter betraten das Lager und schüttelten frischen Schnee aus ihren aufgeplusterten Pelzen, als sie sich auf Djinn zubewegten und sich respektvoll vor ihm verbeugten.
Der linke von ihnen erhob sein Wort und sprach:
“Djinn. Wir haben ihn gefunden. Er ist tot.“Djinn dagegen setzte ein Lächeln voll gespielter Langeweile auf und fragte:
“Wer?“Der rechte Wächter schüttelte verständnislos den Kopf und keiner der beiden antwortete. Doch das mussten sie auch nicht, denn Djinns Worte troffen geradezu vor Sarkasmus.
“Ach ja, ich erinnere mich. Legt ihn in die Mitte des Lagers. Ich möchte dabei zusehen, wie die Ratten ihn zerfressen.“Mit diesen Worten wandte sich Djinn ab und sprang auf seine Kommode, die Zeit seiner Herrschaft sein Thron war und überblickte stolz das Lager.
Man könnte glatt annehmen, die Kälte habe ihn in Wahnsinn verfallen lassen, doch Claw wusste, dass dieser Wahnsinn schon immer ganz nah unter seiner Haut schlummerte.
Die beiden Wächter dagegen neigten den Kopf, wandten sich ab und kehrten wenig später mit einem dunklen, steifen Wesen zwischen sich zurück.
Claw hatte Angst davor, was er gleich zu sehen bekommen würde. Sein Herz sprang ihm geradezu aus der Brust und die Gedanken drehten sich so schnell in seinem Kopf, dass es das laute Rauschen seines Blutes beinahe übertönte.
“Nein. Nein, Nein, Nein. Das kann nicht sein. Bitte nicht!“Die Wächter ließen den Kadaver fallen und wandten sich zum Gehen. Claw eilte auf die Leiche zu, dessen schwarzer Pelz die schlimmsten Befürchtungen in ihm erweckten.
“NEIN!“Ein lauter Klagelaut entfuhr seiner Kehle als er auf seinen eigenen Leichnam herabblickte und nach dem Licht in den schwarzen Augen suchte wo er nur Leere fand.
“Wie konnte das passieren?!“Das Geisterjunge machte einen Satz und sprang auf die Flanke seines toten Ichs und blickte ihn an.
“Willst du das wirklich wissen? Die Beute ist knapp. Du bist ein Egoist wie er im Buche steht. Dein Respekt vor Djinn hielt nur so lange wie dein Magen vor Hunger laut aufknurrte und deinen Verstand vernebelte.
Du hast dir eingeredet, dass du die Beute nur heimlich stehlen musstest. Niemand würde je davon erfahren. Aber du hättest es besser wissen müssen.
Die Konsequenzen waren irrelevant, nur du allein zähltest. Doch du wurdest erwischt und Djinn vorgeführt. All dein bezaubernder Charme hat dir nichts genutzt. Du hast gefleht und gewinselt wie ein unschuldiges Junges. Aber davon wollte der Anführer natürlich nichts hören. Er setzte eine Blutjagd an und wollte dich durch das gesamte Gebiet jagen lassen. Aber davon wolltest du natürlich nichts wissen.
Du bist geflohen und hast deinem Leben selbst ein Ende bereitet.“Ungläubig schüttelte Claw den Kopf. Nein. Das konnte einfach nicht wahr sein! So etwas würde er doch niemals tun! Er war ein ehrbarer und stolzer BlutClaner! Das hier musste eine Lüge sein.
Aufgeregt peitschte der kleine Schwanz des Geisterwesens auf und ab.
“Kann ich mir ein Stückchen aus deiner Flanke reißen? Ich hab Hunger und du spürst es ja sowieso nicht mehr!“, miaute er fröhlich und tapste ungelenk auf seinem Leichnam umher.
Seinen wütenden Einwand und den Vorwurf des Trickbetrugs winkte das Junge mit seiner kleinen Vorderpfote ab.
“Doch, doch. Traurig aber wahr. Du bist nicht nur unehrenhaft als Verräter gestorben sondern auch noch als solcher, der nicht einmal hocherhobenen Hauptes seiner Strafe und seinem Tod ins Auge blicken konnte.
So viel zu deinem Stolz und sowas…Mhh, das sieht wirklich lecker aus. Und du bist ganz sicher, dass du das Stück Fleisch da noch brauchst?“Doch Claw hörte nichts mehr. Er versank in Selbstmitleid und Selbsthass.
War es das was die Zukunft für ihn bereit hielt? Warum gab er sich mit dem Leben überhaupt Mühe, wenn ihn so etwas Unehrenhaftes erwartete?
Er hatte sich selbst immer als Wächter oder sogar Töter gesehen! Hoch im Ansehen des Anführers, umringt von Bewunderern. Aber nicht – ganz bestimmt nicht so!
Das Geisterjunge sprang von seinem Leichnam herab, stellte sich auf die Hinterbeine und berührte erneut Claws Stirn.
Der schwarze Kater merkte nicht einmal die Berührung oder gar den Übergang in sein eigenes, heimisches Nest.
Er blickte nicht auf, denn er ging davon aus, dass der Geist der zukünftigen Blattleere genauso wie seine Vorgänger auch, sich längst in Wohlgefallen aufgelöst hatte.
Umso überraschter war er, als er die kleine piepsige Stimme in seinem Kopf hörte und aufblickte.
“Du schreibst deine Zukunft selbst, Claw.“Ein letztes Mal lächelte der Geist. Das Licht der aufgehenden Sonne ließ ihn in allen Farben erstrahlen und letztlich in einer bunten Supernova aus Sternenstaub zerspringen.
Claw erhob sich aus seinem Nest. Es war Morgen. Nichts hatte sich geändert. Oder etwa doch?
Langsam schritt er durch das Lager und betrachtete die ersten Seelen, die sich aus ihrem frostigen Schlaf erhoben um ihren Pflichten nachzugehen oder zu beten, dass sie den nächsten Tag erlebten.
Sein Weg führte ihn zu Paige und er wusste, dass er nichts wieder gut machen konnte was geschehen war.
Aber er konnte anfangen ein besserer Kater zu sein. Er konnte die Herzen der kleinen Jungen nicht wieder zum Schlagen bringen, aber er konnte ihrer Mutter die Möglichkeit geben sich zu verabschieden.
Es war nicht viel. Aber es war ein Anfang. Ein Anfang zu einem besseren Selbst.