Es war ein Montagmorgen. Viele komische Dinge geschehen an einem Montagmorgen. Vielleicht weil es da der Start in eine neue Woche ist… Jedenfalls gingst du an diesem Montagmorgen in die Stadt. Du trugst deinen teuren Ledermantel und die dazupassenden Handschuhe. So war dir nicht kalt, obwohl Schnee liegt. Gerade betratst du den kleinen Hauptplatz, als du plötzlich ein leises Wimmern hören konntest. Du gingst näher und sahst ein kleines Mädchen. Sie stand mitten am Platz und weinte. Ihr Gesicht konntest du nicht erkennen, da sie es hinter ihren kleinen Händchen versteckte.  Ihr weinen berührte dich. Es drang durch dein Fleisch ein, in dein Blut und verbreitete sich in deinen ganzen Körper. Du zittertest. Plötzlich gab es einen Stich in deinem Herzen und du wolltest auch weinen. Und du wolltest, dass das Mädchen nicht mehr traurig war. So liefst du zu ihr hin und schlosst sie in die Arme. Wie eine Mutter ihr Kind wogst du sie hin und her, streicheltest ihr Haar und redetest beruhigend auf sie ein. Und langsam verstummte das Schluchzen. Du sahst auf das kleine Mädchen hinab und erstarrtest. Sie hatte die Hände von ihrem Gesicht genommen und dir auf die Schultern gelegt. Ihre Haut war durchscheinend geworden. Ihre Haare hatten sich von blond auf schwarz verwandelt. Ihre Lippen waren dunkelrot wie Blut und ihre Augen schwarz. Riesengroß und tiefschwarz wie die Nacht und der Tod. Immer wenn sie blinzelte, rann eine kleine rote Träne aus Blut über ihre Wangen. Mit Sicherheit war sie einmal bildschön gewesen. Sähe sie nicht so… tot aus. Du wolltest wegrennen, doch ihr Griff hielt dich eisern fest. Hilfe suchend blicktest du dich um - doch die Welt schien wie eingefroren. Niemand bewegte sich, oder beachtete dich und das kleine Mädchen. Sie kam dir näher. Du spürtest ihren Atem auf deiner Haut. Nein. Falsch. Das dachtest du nur, denn so hätte es sein sollen. Doch du spürtest nichts. Ohne nachzudenken, aus dem Reflex heraus, legtest du ihr deine Hand auf die Brust. Sie war eisig und dir wurde trotz deiner Lederhandschuhe bei der Berührung auch kalt. Du fühltest nichts. Kein vertrautes Pochen, weder langsam noch schnell. Da war nichts, nur eine gähnende Leere. Du sahst dem Mädchen ins Gesicht und erkanntest sie plötzlich. Jetzt stiegen dir Tränen in die Augen. „Du willst dich rächen, nicht wahr?", flüstertest du. Sie nickte. Wie oft hattest du schon von diesem Moment geträumt? Du nicktest auch und konntest dich nur schwer beherrschen nicht zu schluchzen. „Bitte tue es! Mein Leben ist nichts mehr wert! Nicht mit der Schuld, an einem Tod beteiligt gewesen zu sein. Nicht mit der Schuld, einem kleinen Mädchen das Leben genommen zu haben. Und du warst so unschuldig…", hauchtest du. Da wurden die kleinen Augen des Mädchens noch größer. Vor erstaunen. Doch du fandest, dass es nichts gäbe, was dich noch auf der Welt halten würde. Dein Mann war so reich, dass ihr euch einen Palast leisten könntest, doch weder liebte er dich noch du ihn. Du hattest keine Kinder, das hättest du nach ihrem Tod nicht durch gestanden. Und wahre Freunde hattest du auch nicht. „Ich… ich kann mich nicht rächen. Das wäre… nicht richtig. Falsch. Genau so egoistisch, wie du seiner Zeit. Aber du hast aus deinen Fehlern gelernt", sie schüttelte den Kopf „Nein, du hast eine zweite Chance verdient… und ich auch…", sagte sie. Sie hatte eine wunderschöne, klare Stimme, doch sie erinnerte dich so sehr an den Schrei, den sie damals ausgestoßen hatte und du wolltest sterben. Doch dann nahm dass kleine Mädchen seine Hand von deiner Schulter und legte sie auf deine Hand, die noch immer an der Stelle lag, an der eigentlich das Herz des Mädchen sein sollte. Plötzlich drehte sich alles. Du erschrakst in deinem Bett hoch und warst wieder zwölf Jahre alt. Hastig sprangst du auf und zogst dich geschwind an. Du wusstest, was du zu tun hattest. Du ranntest aus dem Haus und die Straße, wo schon deine Limosiene auf dich wartete. Natürlich waren deine Eltern nicht da. Sie waren fast nie da. Und dann hörtest du ihn. Ihren Schrei. Er war spitz und so ängstlich. Genau wie damals vor achtundzwanzig Jahren drehtest du deinen Kopf blitzschnell in die Richtung aus der der Schrei kam. Dort stand das kleine Mädchen, drei Schritte von einem fahrenden Auto entfernt, in dem der Fahrer krampfhaft versuchte, es zu stoppen. Doch dieses Mal war es anders. Du drehtest dich nicht weg und liefst in die Limosiene, die dich darauf zur Schule brachte und du versuchtest nicht, dass alles zu vergessen. Du warst nicht mehr das ängstliche Mädchen aus gutem Hause, das nur auf sein eigenes Leben achtete. Du lerntest aus deinen Fehlern. Und so ranntest du auf das Mädchen zu und stießest sie in letzter Sekunde auf den sicheren Asphalt, während im dich herum alles schwarz wurde und du nur noch einen stechenden Schmerz im Bein spürtest. Als du wieder aufwachtest, saß deine Mutter bei dir am Bett. Wie immer trug sie teures Gewandt vom Schneider, doch sie sah müde und sehr erschöpft aus. Ihre sonst so wohl getönte Haut war blass. Unter ihren hellen Augen, hatte sie dunkle Ringe und ihre Haare waren nur einfach zurück gebunden worden. Als sie merkte, dass du wach warst, stieß sie einen Seufzer aus. „Dem Herren sei Dank!" Dann schloss sie dich fest in die Arme und gab dir einen sanften Kuss auf die Stirn. Du konntest dich nicht erinnern, wann sie dies zum letzten Mal getan hatte. „L-Leb ich noch?", stottertest du. Dein Mund fühlte sich seltsam und deine Kehle war staubtrocken. Deine Mutter ließ dich los und betrachtete dich, wobei ihr die Tränen über die Wangen liefen. Dann nickte sie. „Du bist im Krankenhaus. Du hast unglaubliches Glück gehabt und dir ist kaum etwas geschehen. Nur dein Fuß ist gebrochen und du hattest eine leichte Gehirnerschütterung. Das… das war so mutig von dir. Ich kann dir gar nicht sagen, wir stolz ich auf dich bin. Du hast dem Mädchen das Leben gerettet, selbst wenn du dabei sterben hättest können. Ich hätte mich so etwas nie getraut. Doch du bist einfach besser als ich. Es…es tut mir so unendlich leid, dass ich nie für dich da gewesen bin. Und auch dass ich das erst jetzt bemerkt habe - jetzt wo ich dich so knapp verloren hätte. Dabei bist du doch mein ein und alles. Ich liebe dich so unglaublich", die Worte sprudelten einfach so aus deiner Mutter heraus, als hätten sie sich schon ewig in ihr angesammelt und könnten nun endlich aus ihr heraus. Doch jetzt warst du stumm. Jetzt, wo es so viel gegeben hätte, was du sagen solltest, fielen dir keine Worte ein. So nahmst du wortlos die Hand deiner Mutter und drücktest sie. Als Zeichen, dass du ihr verziehst und als Zeichen, dass du sie lieb hattest. Sie schluchzte noch einmal und drückte zurück. Dann ging sie aus dem Zimmer, damit du dich ausruhen konntest. Du lehntest dich zurück und starrtest auf die weiße Decke. Doch nach ein paar Minuten klopfte es wieder. „Ja?", fragtest du. Es wurde die Türe geöffnet und du hörtest ihre Stimme wieder. Die kleine, wunderschöne Stimme. „Darf ich stören?", piepste sie höflich. Du fuhrst hoch, wobei sich in deinem Kopf alles drehte. Doch es war dir egal. Da stand sie. Sie sah ein wenig anders aus, als nach ihrem Tod. Ihre Haare waren Ebenholz braun, lang und glatt. Sie hatte blasse Haut, wenn auch keine durchscheinende, wie als Geist. Ein paar niedliche Sommersprossen zierten ihre Stupsnase, doch ihre Augen waren noch immer dunkel. Zwar hatten sie einen leichten warmen braunen Tisch, doch sie waren genau so groß und mysteriös, wie sie nach ihrem Tod waren. Das Mädchen war höchstens neun. Sie war unverletzt, du sahst nicht einmal einen Kratzer. Und du warst froh darüber. Du nicktest. „Natürlich", meintest du und lächeltest schwach, aus purer Angewohnheit, da man immer lächelte, wenn man kleine Kinder sah. Sie kam näher und nahm den Platz am Bettrand ein, an dem deine Mutter gerade eben noch gesessen hatte. „Dankeschön", meinte sie und wirkte so ehrlich, dass du lächeln musstest. Da nahm sie deine Hand. Ihre war warm und du spürtest ihren Puls. Er war gleichmäßig und ruhig. „Nein, ich muss danke sagen", flüstertest du. Sie nickte. Du hättest schwören können, dass sie: „Jeder verdient eine zweite Chance…", gemurmelt hätte. Doch im nächsten Moment war sie auch schon wieder aus der Türe. Du grinstest. Manchmal waren Montagmorgen ja gar nicht so schlecht…