Engelsflügel hatte Sicheljunges' kleine Geste bemerkt, doch mehr als ein Ohrenschnippen hatte sie in diesem Moment nicht für ihn übrig. Das kleine Junge konnte nichts dafür und sie wusste, dass es einige Dinge noch nicht ganz verstehen konnte, doch es ging ihm gut. Sie konnte ihren Fokus problemlos auf ihre eigenen aufgewühlten Gefühle richten.
Ihr Inneres tobte.
Rabenstolz' Worte ließen ihre Schwanzspitze kurz zucken. Glaubte die Kriegerin wirklich, dass eine knappe Aussage ihr die Sicherheit geben würde? Das hier war noch nicht so recht ihr zuhause; ihre eigentliche Heimat brannte scheinbar. Doch sie konnte unmöglich einer Fremden vertrauen, wenn es darum ging, wie es dem SchattenClan erging.
Schweigend sah Engelsflügel den beiden Kätzinnen nach, nachdem sie den Bau verlassen hatten. Sie konnte nur hoffen, dass Rabenstolz ihr Wort hielt, doch etwas an der Ausstrahlung der Kriegerin sagte ihr, dass sie keine Lügnerin war.

Auf Eschenblatts Worte hin konnte die Heilerin nur Seufzen. Als dieser wieder mit seinem Sohn sprach, tappte sie orientierungslos über die Heilerlichtung und betrachtete anschließend die Kräuter, die sie für Rosenträne vorbereitet hatte. Sobald ein wenig Ruhe eingekehrt war, würde sie zur Kinderstube gehen. Die Königin brauchte diese Kräuter unbedingt.
Wo blieb Enzianpfote? Sie brauchte seine flinken Pfoten, seinen jungen Körper. Alleine konnte sie all das in ihrem Alter doch nicht schaffen? War er dem SchattenClan zur Hilfe geeilt oder war etwas geschehen?
Lärm am Eingang der Lichtung ließ sie zusammenzucken. Verwirrt drehte sich Engelsflügel wieder um, betrachtete drei Gestalten im Mondlicht und tappte wieder über die Lichtung. Eschenblatts Duft lag in der Luft, doch der Kater war wieder verschwunden. Übrig blieb ein ruhiger Buntpfote und ein - wie sie lernte - verwundeter Rauchkralle. Der Schüler verschwand allerdings bevor sie groß etwas sagen konnte. Sie glaubte, dass er sich zu Silberbiss begeben hatte, also meckerte sie erst einmal nicht. Er könnte ihr noch nützlich werden.

Wortlos kauerte sich Engelsflügel neben Rauchkralle und begann die Wunden des Kriegers zu putzen. Er hatte unzählige Kratzwunden an seinem Körper und schien so, als hätte er so einiges an Blut verloren. Entsprechend erhob sich die Heilerin wieder, tappte schnellen Schrittes zum Heilerbau und zog noch mehr Spinnweben hervor. Sie würde Kräutersammeln gehen müssen und ihre Vorräte an Spinnweben gingen auch zu neige.
Beim SternenClan, ich kenne diesen Ort doch nicht. Hoffentlich kommt Enzianpfote bald, dann kriegt er erstmal was zu hören!
Neben den Spinnweben griff sie sich auch noch etwas mehr vom Schachtelhalm und den Ringelblumen, sowie Mohnsamen.
An Rauchkralles Seite gekauert kaute sie die Kräuter, während eine dünne Schicht an Spinnweben die Blutung etwas in Schach halten sollte. Immer wieder glitt ihr Blick zu der Wunde im Gesicht des Kriegers. Wenn diese nicht richtig behandelt wurde, würde er mehr Schäden als eine Narbe beibehalten.
Fürsorglich und vorsichtig zupfte sie dann die Spinnweben wieder von den Wunden des Katers und leckte den Brei auf diese. Es würde sicherlich kein angenehmes Gefühl sein, besonders nicht im Gesicht, doch so wie der Krieger aussah, bezweifelte sie, dass er davon groß etwas bemerkte. Schließlich befestigte sie all das mit Spinnweben und blieb einige Momente lang neben dem Kater sitzen. Ihr Herz hämmerte ihr in der Brust.
Die Behandlung war nicht so sauber gewesen wie sonst. Ihre Pfoten hatten etwas gezittert und somit sah der Krieger auch nicht so schick aus, wie sonst. Doch es würde reichen und wenn alles gut lief, würden die Wunden zu heilen beginnen. Den Brei würde sie regelmäßig wechseln müssen, also betete die Kätzin, dass ihre Vorräte ausreichten.
»Buntpfote, komm mal kurz her«, rief Engelsflügel leise über die Schulter, ihre Schwanzspitze zuckte. Sie war sich bewusst, dass der Kater gerne mit seinem Freund sprechen wollte, doch dafür hatten sie auch später noch Zeit. Tatsächlich wollte sie die beiden auch gleich wieder zusammenstecken.
»Bringst du bitte etwas Beute in den Bau? Die Verwundeten sollten Beute an ihrer Seite haben, wenn sie aufwachen, und Silberbiss könnte eine weitere Mahlzeit vertragen. Und bring mir etwas für Rosenträne. Und etwas Kleines für mich.«
Ihre Schwanzspitze zuckte, doch sie machte keine Anstalten, sich zu bewegen. Sie war erschöpft und Angst um ihren Clan schnürte ihre die Kehle ab.
»Ich werde gleich Kräuter in die Kinderstube bringen, die Rosenträne braucht. In der Zwischenzeit könnt ihr beiden mal schauen, ob Silberbiss Stehen kann. Wir sollten an seiner Beweglichkeit arbeiten, denkst du nicht auch?«

Engelsflügels Ohren zuckten lediglich als Antwort auf das, was Buntpfote zu sagen hatte. Frisches Moos konnte nicht schaden und wer wusste, ob sie nicht bald noch viel mehr gebrauchen konnten. Ich muss ins Territorium. Ich muss irgendwie Kräuter finden. Dieser Clan ist abhängig davon und braucht mich, solange Enzianpfote nicht auftaucht. Doch er wird doch... sicherlich wieder auftauchen...
Wortlos zuckte ihre Schwanzspitze, während Engelsflügel in ihren Gedanken versunken über ihrem Patienten kauerte. Er musste zurückkommen. Sie war zu alt für all das hier und sie kannte sich an diesem Ort nicht aus.
Beinahe wäre sie zusammengezuckt, nachdem Buntpfote eine saftige Maus neben sie legte. Kurz überlegte sie, ob sie sich über den Schüler aufregen wollte, doch sie entschied, dass sie seine Entscheidung hinnehmen würde. Langsam packte Engelsflügel die Maus, betrachtete sie eindringlich, versuchte sich auf nur diese eine Maus zu konzentrieren und alles andere zu vergessen.
Nachdem sie die Hälfte gefressen hatte, hatte sie keinen Hunger mehr. Schweigend packte sie den Rest der Beute und trug sie zum Heilerbau, schob sie in den Felsspalt, in dem sie hausierte. Fast als wäre die weiße Kätzin nicht anwesend. Ihre Bewegungen waren stumpf, leblos, zu sehr krallten sich die Ängste in ihren Körper, zerrten an ihr. Sie erkannte kaum die Pfoten wieder, die nach den Kräutern für Rosenträne griffen.
»Neben dem Bau ist vollkommen in Ordnung«, miaute Engelsflügel auf Buntpfotes Frage hin und es kam ihr so vor, als hätte jemand anderes gesprochen. Als wäre sie nur Zuschauer.
Der Schüler verschwand wieder, da er die Beute für ihre Patientin vergessen hatte, dennoch machte sich Engelsflügel mit ihren Kräutern bereits auf den Weg zur anderen Seite der Lichtung. Kurz hielt sie bei dem Streuner inne, der noch immer verschwunden war in seiner Traumwelt. Wenigstens konnte sein Körper zur Ruhe kommen. Er wirkte etwas friedlicher als noch zuvor.
Buntpfote tauchte wieder auf und Engelsflügel setzte sich wieder in Bewegung.
»Ich schaffe das schon selbst«, erklärte die alte Kätzin, doch ihre Stimme war mild, nicht so scharf wie sonst. Viel eher klang sie müde, abwesend. Und das war sie auch. Die Sorgen in ihrem Bauch taten zu sehr weh, als das sie normal handeln könnte. »Gib her.«
Die Kräuter drückte Engelsflügel unter ihr Kinn, packte Maus und Eichhörnchen mit den Zähnen. Sie hatte schon viel mehr auf einmal tragen müssen in ihrem Leben. Das hier war kein Problem für sie, auch wenn sie alt und zittrig war.

Außerhalb der Lichtung hatte der Regen es etwas leichter, ihr Fell zu erwischen. Daran ließ sich Engelsflügel allerdings nur wenig stören. Ihr Fell war so dreckig und verknotet, dass das Wasser keine Chance hatte, an ihre Haut zu gelangen. Entsprechend konnte ihr der Regen nicht wirklich etwas anhaben.
Ihr Blick glitt stets umher, doch bei dem schlechten Licht konnte sie die Katzen im Lager nur schlecht erkennen. Honigstern war noch nicht zurückgekehrt, doch ihre Zweite Anführerin schien noch im Lager zu sein. Wie seltsam. Sollte das so sein? Irgendjemand musste schließlich auf das Lager aufpassen, während die Anführerin fort war...
Vor der Kinderstube traf Engelsflügel auf Farnsee. Die Kätzin hatte erst kürzlich ihren Sohn, Rotjunges, verloren, und sah so müde aus, wie die Heilerin es sich in einer solchen Situation vorstellte. Respektvoll neigte die alte Kätzin ihren Kopf vor der ehemaligen Zweiten Anführerin, legte die Beute ab und schob das Eichhörnchen näher an die gemusterte Königin.
»Du wirst deine Kräfte brauchen«, miaute die Heilerin vielsagend, auch wenn ihre Worte nichts bedeuteten, und packte die Maus für Rosenträne. Prüfend musterte sie Farnsee einen Moment, suchte Protest in ihrem Blick, doch als sie nichts anderes fand als Müdigkeit, wandte sie sich ab und trat in den Bau.

Eschenblatt und Sicheljunges hatten sich bereits ein Nest eingerichtet. Muschelherz besuchte die beiden, doch da sie nicht zu ihnen wollte, ignorierte sie die drei. Solange sie nicht zu laut wurden.
In einem Nest lagen Moosjunges und Borkenjunges dicht aneinander gekuschelt. Nachdenklich musterte sie die beiden Jungen. Der Verlust eines Geschwisterchens war nie einfach und ihr Bruder würde sie für immer begleiten. Doch es waren Farnsees Jungen und so wie Engelsflügel die Königin kannte, würden auch diese beiden zu starken Kriegern heranwachsen.
Schließlich kauerte sich Engelsflügel zu Rosenträne. Die Königin schien wach zu sein, regte sich jedoch eher wenig. Selbst Mondjunges schien aktiver zu sein als die cremefarbene Kätzin. Die Heilerin unterdrückte ein resigniertes Seufzen.
»Hier«, miaute die gestreifte Kätzin leise und schob der Königin die Maus und die Kräuter zu. »Friss. Du musst dich stärken. So wie es aussieht, wird dein Kleiner bald auf einen Ausflug gehen wollen, und da soll Mama nicht fehlen, richtig?«
Engelsflügel versuchte sich an einem leichten Lächeln, doch es erstarb fast in der gleichen Sekunde.
»Darf ich?«, fragte sie deshalb und deutete auf das Bündel, dass sich an seine Mutter geschmiegt hatte. Sie wollte prüfen, dass es Mondjunges auch tatsächlich gut ging.