Vertretung

Der Regen wollte an diesem Tag besonders lästig sein. Noch dazu hatte die dunkle Tigerkätzin keinen Krieger finden können, der mit ihr auf die Jagd gehen wollte. Ihr Dasein hatte sie im Schutze des Kriegerbaus gefrustet, doch selbst hier schienen ihr die Katzen aus dem Weg gegangen zu sein. Lavendelfrost wusste, dass dies nicht die Absicht ihrer Clan-Gefährten war, doch je länger sie dort saß, ohne einer Aufgabe oder einem Gespräch nachzugehen, desto häufiger fragte sie sich, ob sie für ihre Clan-Gefährten nur ein Schatten war.
Gerade als die Kätzin den Entschluss gefasst hatte, dass sie alleine aus dem Lager zur Jagd aufbrechen würde, rettete Honigstern sie aus ihrer misslichen Situation. Eilig schob sich die Kriegerin aus dem Bau, bahnte sich ihren Weg durch die Menge und ließ sich inmitten der Katzen nieder, um den Worten ihrer Anführerin zu lauschen. Es war ungewohnt, mitten im Geschehen zu sein, doch wenn Lavendelfrost eine Sache hatte, dann waren das ihre Kriegerfertigkeiten.

Freunde hatte die Kätzin keine, und ihren Aufgaben ging sie am liebsten alleine nach. Doch insbesondere nach Vorfällen im Kriegerbau musste sich auch Lavendelfrost eingestehen, dass dies auf Dauer nicht funktionieren würde. Auch wenn sie die Monde ihrer Kriegerzeit alleine gefristet hatte, so sehnte sich die dunkle Katze doch nach Anschluss im Clan, und noch viel mehr in ihrer Familie. Wäre da nicht all die Wut, die sie immer schon mit sich getragen hatte. Wie sollte Lavendelfrost es unter diesen Umständen schaffen, Freunde zu finden, die auch langfristig an ihrer Seite blieben?
Honigstern unterbrach ihre Gedanken; es ging um Moospfote, die einen neuen Mentoren brauchte. Einige Momente lang suchte Lavendelfrost den Blick ihrer jüngeren Schwester, doch diese beachtete sie nicht. Warum auch? Die Kriegerin war nie ein aktiver Teil des Lebens ihrer Halbgeschwister gewesen, und selbst ihre Wurfschwestern mied sie. Ob Moospfote jemals hoffte, mit ihnen zu reden? Farnsee würde sich freuen, wenn sie alle zueinander finden würden.
Ihre Schwester erhielt Rauchtatze als Mentoren. Zwar war Lavendelfrost nicht traurig darüber, dass ihre Anführerin nicht sie ausgewählt hatte, denn eines Tages würde sie an der Reihe sein. Bis auf Primelnase hatte noch keine von ihnen einen Schüler ausgebildet, und auch wenn Lavendelfrost eifersüchtig auf die braune Kätzin war, so nahm sie dieses Urteil einfach hin.
Aber Rauchtatze? Ein SchattenClan-Kater? War nicht mittlerweile jedem bewusst, dass Farnsee besonders unter der Vertreibung gelitten hatte? Warum musste ein Kater wie er die Ausbildung übernehmen? Schlecht gelaunt schnaubte sie nur, dann lief sie an den Lagerrand, als die Menge sich zerstreute.

Lavendelfrost blickte sich von dort aus einige Momente lang um. Der Regen kroch ihr unangenehm in den Nacken, dennoch machte sie keine Anstalten, sich schützend woanders unterzustellen. Viel eher musste sie darüber nachdenken, wo sie gleich am besten Jagd machen könnte. Ihre Schwanzspitze schnippte, während sie vor sich hinüberlegte, und kam zum Stillstand, als ihr scharfer Blick am Ältestenbau hängen blieb.
Genauso wie sie einsam war, war es auch der Ältestenbau. Darin lebte nur Dämmersang. Zwar hatte Lavendelfrost nicht den stärksten Draht zu der Ältesten gehabt, doch ihr kam das Bedürfnis, sie zu besuchen und ihr anzubieten, dass sie ihr frische Beute brachte. Dann wäre sie wenigstens nicht ganz so allein.
»Dämmersang?«, fragte Lavendelfrost laut, aber mit respektvollem Ton. Schließlich war sie ein wichtiges Mitglied des Clans und konnte noch viele Weisheiten an jüngere Generationen geben.
Mit ruhigen Schritten betrat die Kriegerin den Ältestenbau. Die Älteste hatte noch nicht gefragt, doch es konnte nicht schaden, schon einmal hineinzugehen.
Das war auch die richtige Entscheidung gewesen, denn der Gestank von Krankheit und Tod kamen ihr entgegen. Dämmersang lag reglos in ihrem Nest, ihr großer, einst glorreicher Körper war erschlafft. Blinzelnd blickte die dunkle Kätzin auf die einzig übrige Älteste des Clans, die nun auch noch verstorben war. Das war es dann wohl mit "gemeinsam allein".

Lavendelfrost war nicht traurig oder geschockt. Für ihr Alter hatte sie viele verstorbene Katzen gesehen, und hatte auch an der Beerdigung eines Kriegers teilgenommen. Ihr Herz schlug etwas nervöser bei dieser Erinnerung, doch mit einem fokussierten Blick auf die Tote konzentrierte sie sich wieder.
»Hoffentlich bist du im SternenClan nicht mehr so einsam«, war das schwache Gebet, dass Lavendelfrost vor sich her murmelte. Dann versuchte sie, die Kätzin auf ihre Schultern zu hieven - es dauerte eine ganze Weile, denn sie war deutlich kleiner als die Tote -, und aus dem Bau zu tragen.
Schweigend trug Lavendelfrost Dämmersangs Körper auf den Lagerplatz und ließ sie vor dem Hochstein auf den Boden gleiten. Nur kurz schob sie ihren Körper zurecht, denn sie war nicht gut darin, Totenwachen vorzubereiten, und damit wollte sie sich auch eigentlich nicht beschäftigen. Honigstern aufzusuchen würde wichtiger sein.
Zügig entfernte sich Lavendelfrost von der toten Ältesten, und steuerte gleich auf ihre Anführerin zu. Mit einem respektvollen Nicken grüßte sie, wobei ihr Blick kurz den ihren suchte. Was Honigstern wohl von ihr dachte?
»Ich habe Dämmersang in ihrem Bau gefunden. Ich fürchte, dass eine Krankheit sie getötet hat.«
Bei dem Alter der Ältesten hätte allerdings auch das zu ihrem Tod führen können. Sagen würde Lavendelfrost das nicht, stattdessen starrte sie ihrer Anführerin lediglich entgegen.
Ob sie noch auf die Jagd gehen würde? Irgendwie hatte sie daran ihre Zweifel.